2 Dichotomie oder Kontinuum

Am Anfang steht die Frage, wie man körperliches und psychisches Leiden von Menschen besser begreifen kann. Leiden und Krankheit sind in jeder Gesellschaft und zu jeder Zeit omnipräsent. Es gibt Aussagen darüber, daß sich ca. ein Drittel bis die Hälfte einer jeden Gesellschaft in einem mehr oder weniger kranken Zustand befindet.

Jede Gesellschaft hat ihre eigene Art und Weise, mit Krankheit umzugehen, d.h. eine eigene Philosophie mit bestimmten Grundsätzen, ein Denkgebäude mit Kategorien, welches das Verständnis des Phänomens transparent machen soll.

2.1 Das pathogenetische Paradigma

Die westlichen Industrienationen haben das biomedizinische Modell entwickelt, in dem wir uns alle auf kurz oder lang als Patienten und / oder als Behandelnde oder Forscher wiederfinden. Antonowsky nennt das biomedizinische Modell das "pathogenetische Paradigma". Es beschäftigt sich im wesentlichen mit Entstehung, Wesen, Verlauf und Therapie von Krankheit, d.i. Pathologie. Das Prinzip des pathogenetischen Denkansatzes ist, daß der an sich integre, gesunde Organismus ganz allgemein durch widrige Umstände (pathogene Einflüsse) beeinträchtigt wird. Daraus resultiert Krankheit, die mittels einer Diagnose klassifiziert wird. Daraus wiederum folgt eine Maßnahme oder Therapie, die den Schaden beheben oder minimieren soll. Diese Denkweise ist individualistisch und materialistisch, weil sie (zumeist) den Menschen einzeln betrachtet und den Körper als mechanisches Zusammenwirken von Einzelteilen begreift.

Abbildung 1: Dichotomie

2.2 Kritiken am pathogenetischen Paradigma:

2.2.1 Die Präventionsthese

Die Vertreter der Präventionsthese kritisieren, daß das Hauptaugenmerk auf dem Organismus zu einem Zeitpunkt liegt, wo er bereits Schiffbruch erlitten hat. Das läßt sich anhand einer Metapher verdeutlichen: "die Verfälschung durch den Blick flußabwärts"

Man stelle sich einen Strom vor, der flußabwärts starke Turbulenzen hat. In diesem Strom schwimmen Menschen, die verzweifelt versuchen, nicht zu ertrinken. Die Medizin bemüht sich mit größter Hingabe, mit immensem apparativem Aufwand und mit einer riesigen Industrie, diese Menschen vor dem Ertrinken zu retten. Jedoch wird viel zu selten die Frage gestellt, was flußaufwärts eigentlich passiert: wer oder was schmeißt die Leute eigentlich ins Wasser?

2.2.2 Systemtheoretische Kritik: das biosoziale Modell

Dieser Ansatz vertritt die Auffassung, daß die Forschung nach spezifischen Pathogenen nicht weiterhilft, sondern daß eine Vielzahl von widrigen Einflüssen (einschließlich biopsychosozialer Stressfaktoren) dafür verantwortlich ist, daß ein Organismus endlich krank wird.

Alle diese Kritiken ändern aber nichts an der Grundannahme, daß der an sich gesunde Organismus durch eine oder mehrere Einflüsse/Pathogene krank gemacht wird und daß durch die Ausschaltung dieser Pathogene Gesundheit erhalten oder wiederhergestellt wird.

2.2.3 Kritik der Heterostase / Gesundheit und Krankheit als Kontinuum

Abbildung 2: Homöostase stabiles Gleichgewicht

Die Biomedizin geht davon aus, daß Körper und Geist sich in einem Zustand des Gleichgewichts (Homöostase) befinden. Tritt nicht eine bestimmte Kombination von Umständen auf, wird der Mensch auch nicht krank. Wie in Abb. 1 versinnbildlicht, wird der homöostatische Körper, der sich in einem stabilen Gleichgewicht befindet, ohne den Einfluß der Pathogene nie ins Wanken kommen.

Abbildung 3: Heterostase

Antonowsky sagt dementgegen, daß Ungleichgewicht und Leid unlösbar zur menschlichen Existenz gehören, genau wie der Tod. Die im pathogenetischen Modell vorherrschende Sichtweise, daß sich der Organismus normalerweise in einem gesunden, sich selbst regulierenden Zustand befindet, begreift Krankheit demzufolge als eher untypische Abweichung, was Antonowsky als dichotomische Sichtweise bezeichnet. Hier gesund und da krank. Er dagegen behauptet, daß wir uns alle von unserer Geburt an bis zum Tod in einem Zustand befinden, der irgendwo zwischen ganz gesund und ganz krank liegt. Kaum jemand von uns ist so gesund, daß er nicht irgendein Leiden hätte und andererseits hat selbst der/die Sterbende, solange er/sie noch nicht gestorben ist, eine gesunde Komponente. Antonowsky bezeichnet seine Sichtweise als Gesundheits-Krankheitskontinuum:

Abbildung 4: Kontinuum

Jeder Mensch befindet sich zu jedem Zeitpunkt seines Lebens irgendwo zwischen den zwei Polen auf der Skala. Durch die unüberschaubare Zahl an Faktoren, die eine Bewegung zu einem der beiden Pole hin veranlassen können, ist es nie ganz vorhersehbar, wie sich der Organismus verhalten wird. Diese Ungewißheit nennt Antonowsky die Kraft der Entropie (siehe Abb. 2: zu welcher Seite des Berges der Körper hinabrollen wird, ist nie genau vorhersagbar.) Um hier nocheinmal die Metapher zu Hilfe zu nehmen:

Kein Mensch steht sicher am Ufer des Flußes, wir alle befinden uns mitten im Fluß. Und jeder Mensch befindet sich sozusagen in einem anderen Fluß, je nach nationalen, ethnischen, sozialen oder geschlechtlichen Zugehörigkeiten oder Umständen haben wir alle mit unterschiedlichen Strömungen, Strudeln und Gefahren zu kämpfen. "Kein Fluß ist sehr friedlich".

2.2.4 Neuorientierung durch neue Fragestellung

Wenn man jetzt aber überlegt, wie vielen Gefahren der menschliche Organismus ausgesetzt ist, wieviele Pathogene auf ihn einstürzen, dann ist es eigentlich ein Wunder, daß nicht alle Menschen immerzu krank sind, sondern einige es auch schaffen, gesund zu sein. Was hält diese Menschen gesund, was macht sie gesund? Im Gegensatz zu den Fragestellungen, die die Biomedizin stellt ('Was macht krank?') ist das eine radikal neue Fragestellung. Welche Kräfte sorgen dafür, daß sich einige Menschen trotz aller Pathogene, Noxen und widrigen Umstände auf der gesunden Seite der Skala halten können oder sich darauf zu bewegen? Diese Frage ist neu, und neue Fragestellungen sind in der Wissenschaftsgeschichte meist der entscheidende Motor für Fortschritte gewesen.

So führen schon die 'pathogenetischen Scheuklappen' in der Forschung dazu, daß ganz wesentliche Zusammenhänge schlechterdings übersehen werden:

Als Beispiel hierfür will ich ein Experiment an Ratten zitieren (in ANTONOWSKY, 1997, S.21), in dem die immundepressive Wirkung von Schockbehandlungen untersucht wird. Es wurde die Lymphozytenproliferation an vier Gruppen gemessen: eine Gruppe war unausweichlichen Schocks ausgesetzt, eine zweite ausweichbaren Schocks, eine dritte gar keinen und eine vierte war im Heimkäfig. Das Ergebnis bestätigte die Hypothese, daß die stärkste Immunsupression bei den Tieren beobachtet wurde, die den unausweichlichen Schocks ausgesetzt war. Daß die zweite Gruppe, die den ausweichbaren Schocks ausgesetzt war, die geringste Immunsupression aufzuweisen hatte, wird zwar erwähnt, aber nicht weiter kommentiert. Dabei ist hier doch offensichtlich ein Faktor gefunden worden, der den Ratten zu messbar besserer Gesundheit verholfen hat: Ein Stressor kann einen deutlichen Beitrag zur Gesundheit leisten, vorausgesetzt, man hat Kontrolle über ihn!

Als weiteres Beispiel erwähnt Antonovsky eine Untersuchung, die die Kausalität von Depression und Krebssterblichkeit belegt. Nach ihr ist die Wahrscheinlichkeit, an Krebs zu sterben, für depressive Menschen mehr als doppelt so groß wie für Nichtdepressive. Die Wahrscheinlichkeiten der 17 Jahre-dauernden Untersuchung sind 3,4 bzw. 7,1%. Daß aber fast 93% der als depressiv eingestuften Männer weder an Krebs noch an einer anderen Krankheit starben, wird gar nicht beachtet. Das führt dazu, daß die Studie besagt, daß Depression zu Krebs führt, obwohl die überwältigende Mehrheit gar keinen Krebs bekommt. Diese Mehrheit stellt offensichtlich eine Ausnahme dar. Warum aber bekommen diese 93% keinen Krebs?

Genauso haben unzählige Studien erwiesen, daß Rauchen Lungenkrebs verursacht. Aber niemand stellt die Frage "welche Raucher bekommen keinen Lungenkrebs?" Erst diese Fragestellung kann doch zum Finden von Faktoren führen, die Stress bewältigen ("Coping-Ressourcen").

Wir alle schwimmen in einem Fluß mit Untiefen, Strömungen und anderen Gefahren. Sicher ist, daß wir alle unausweichlich auf einen nicht zu überlebenden Wasserfall zusteuern. Die pathogenetisch orientierten Praktiker beschäftigen sich mit den Menschen, die in einen Strudel geraten sind, sich im Schilf verfangen haben, mit einem Fels kollidiert sind, von anderen Menschen unter Wasser gehalten werden oder von Krokodilen angefallen wurden. Im Übrigen versuchen sie uns davon zu überzeugen, möglichst gar nicht zu schwimmen. Die salutogenetische Orientierung versucht ganz einfach gesagt, die Menschen zu ausgezeichneten Schwimmern zu machen.